Kreuz und quer

Ich reiste kreuz und quer durch Hessen, um meine Leute zu besuchen – mit dem 9-Euro-Ticket.

Super – dachte ich, für mich als überzeugte Öffi-Nutzerin war das Ticket längst überfällig. Und tatsächlich: Ich sah auf meinen Fahrten jetzt mehr unterschiedliche Leute – und die Züge waren voll, rappelvoll. Es war wie auf einer Kirmes. Mir gegenüber ein älterer Herr mit Fahrrad, neben ihm eine Dame, die offensichtlich das Zugfahren nicht gewöhnt ist. Sie vergleicht immer wieder ihren ausgedruckten Fahrplan mit den Bahnhöfen, an denen wir halten. Ich sitze zwischen zwei Studentinnen auf der einen und einer Mutter, die mit ihrem Sohn in eine Kur fährt, auf der anderen Seite. Beide sind schon ein paar Stunden unterwegs und der Kleine wird langsam müde. Ein Stück weiter weg ein Mann, der den gesamten Waggon beschallt. Alle erhalten tiefe Einblicke in die Hundeseele, politische Einschätzungen zum Ukraine-Krieg und schließlich düstere Prognosen für den kommenden Winter. Ja, der Krieg – und das ausbleibende Gas – das höre ich immer wieder auf meinen Fahrten mit. Insgeheim schüttele ich manchmal den Kopf. Mich treiben nicht die Strumpfhose und den Pullover um, die ich im Winter tragen werde. Ich fürchte die sozialen Folgeschäden, die Armut, in die Teile unserer Bevölkerung getrieben werden und ihre Folgen. Und – uns wird es noch gut gehen im Vergleich zur ukrainischen Bevölkerung.

Aber gerade ist Sommer. Die Temperaturen über 30°, die Züge voll gedrängt, denn es können mit dem 9-Euro-Ticket auch Leute verreisen, für die zu anderen Zeiten Bahntickets zu teuer sind. Ja!

Manche meinen, das 9-Euro-Ticket sei ein ‘Schnäppchen-Ticket’. Nein Leute, weit gefehlt. Es ermöglicht Menschen, die normalerweise nicht reisen können, an etwas teilzuhaben, das wir mal als Bürgerrecht definiert haben.

Was sehe ich auf meine Reisen, wenn ich gerade nicht den Menschen zuhöre?

Odenwald – hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein.

Doch am nächsten Morgen studiere ich eine traurige Liebesgeschichte an der Station, an der ich auf meinen Zug warte.

Frankfurt – ich surfe mit meinem Sohn abends durch die Stadt – und wir finden in Hausen die Brotfabrik, in meinen Frankfurter Tagen ein Kulturzentrum – wieder und essen dort lecker.

Am nächsten Tag muss ich quer durch die Stadt in den Osten fahren, um zu meinem Zug zu kommen.

Ich kenne das Ostend gut – von früher. Heute finde ich einen zerrissenen Ort vor – zwischen Kapital und Kommerz

und lost spaces.

Gießen – zwei Herzensgute,

ein gesegneter Garten

und sein König

– Caruso – empfangen mich.

Bad Ems – Auf dem Weg dorthin die Lahn entlang sehe ich immer wieder tote Fichtenareale.

Auch hier heißen mich zwei aufrechte, liebenswerte Menschen willkommen. Sie leben ebenfalls in einem Garten, aber eben anders.

Nicht weit entfernt liegt über Koblenz die Festung Ehrenbreitstein. Sie stammt aus dem 16. Jahrhundert und thront über Koblenz auf der rechten Rheinseite. Im Nationalsozialismus wurde sie im Zuge der Kriegsvorbereitungen ausgebaut und erweitert. Das atmen die Gemäuer heute noch.

Doch im Sommer finden dort regelmäßig kleine Konzerte oder größere Events statt.

An diesem Abend wollen wir Lulo Reinhardt sehen – anschließend tritt eine junge Brasilianerin auf – Fernanda Santanna – whow. Ein kleiner Vorgeschmack auf das kommende Festival im Vogelsberg.

Rhein und Mosel zeigen schon bedenklich viele Sandbänke – und es ist erst Mitte Juli. In einem Moseldorf an einer Kirche entdecke ich eine Figur, Teil einer Kreuzigungsgruppe. Dieses Gesicht hat es mir angetan. In welches Grauen blickt die Frau?

Am nächsten Tag will ich zurück nach Gießen – und die Verbindung zeigt mir ein Schienenersatzversprechen an. Ich fahre also los – und komme bis Limburg. Als ich aussteige und den Bus suche, finde ich weit und breit keinen, auch niemanden, der mich informieren könnte. Es ist Sonntag.

Ich frage mich durch und nach einer Weile erfahre ich, wo in etwa der Bus nach Weilburg stehen könnte. Ich laufe durch eine Unterführung, finde einen Busbahnhof, jedoch keine Busse weit und breit.

Man muss genau hinsehen und ein bisschen hin- und herlaufen, um die Haltestelle für den Ersatzverkehr zu finden.

Dort haben sich inzwischen auch andere Gestrandete eingefunden, einige machen sich schon mit ihren Schlauphone kundig. Es soll einen Bus geben, aber erst um halb sieben. Gut, denke ich, dann lohnt das Warten. Aber um 20 vor sieben ist noch kein Bus da. Dann heißt es, es komme ein Bus, der bringe uns aber nur bis zum ICE-Bahnhof. Dann müsse man den Zug nach Frankfurt nehmen, um von dort nach Gießen zu gelangen. Puh – ich rechne und denke an den Umweg, den man zur Zeit von Frankfurt über Hanau nach Gießen nehmen muss.

Ich zücke mein Dummphone (es kann nur telefonieren) – und rufe bei Freunden an. Yippie – in einer Stunde wird meine Freundin da sein – und mich und zwei weitere Frauen nach Gießen mitnehmen.

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